Raus aus dem „Silo-Denken“ – Mehr Vernetzung und Koordination für ein gelingendes Altern in NRW
Ausgerichtet wurde die Fachtagung von der Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V. (FfG) gemeinsam mit dem Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung Bochum (InWIS) und dem Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA). Ziel war es, wie Christoph Strünck, Direktor des Instituts für Gerontologie an der TU Dortmund, zu Beginn betonte, einen nachhaltigen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis zu fördern. Dazu waren VertreterInnen aus allen Bereichen eingeladen.
Zunächst führte Prof. Dr. Gerhard Naegele von der TU Dortmund die knapp 140 TeilnehmerInnen in die Rolle der Kommunen in der Pflege ein und betonte, diese sei sowohl rechtlich als auch durch die Kommunen selbst begrenzt. Er kritisierte u. a., die Zulassung von Pflegeeinrichtungen werde nicht an dem Bedarf einer Kommune, sondern an den Qualitätskriterien einer Einrichtung ausgerichtet. Man dürfe nicht allein dem Markt die pflegerische Versorgung überlassen, sondern müsse den Kommunen dort eine stärkere Rolle zukommen lassen. Dabei müsse die Pflegeplanung, -steuerung und -beratung in einer Hand liegen.
Auch Prof. Dr. Rolf G. Heinze von der Ruhr-Universität Bochum bemängelte die künstliche Trennung von Bereichen, die eigentlich eng zusammenarbeiten müssten. So sprach er von dem flächendeckenden „Silo-Denken“ in Politik und Kommunen und von der Notwendigkeit eines Schnittstellenmanagements. Es gebe viele Doppelstrukturen, die durch eine gute Koordination vermieden werden könnten. Als Mitglied der 7. Altenberichtskommission berichtete er auch von den zentralen Ergebnissen des 7. Altenberichts. Dort seien neben der schon recht bekannten vertikalen Ungleichheit zwischen den Generationen auch die horizontale, intragenerationelle Ungleichheit stärker in den Blick genommen worden. Neben MigrantInnen, die nun verstärkt in die höheren Altersklassen aufstiegen, würden auch Behinderte dank der modernen Medizin so alt wie nie zuvor. Die Versorgungssettings müssten auf die verschiedenen Zielgruppen ausgerichtet und verstärkt sozialräumlich gedacht werden, um die Disparitäten im Quartier zu berücksichtigen.
Die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, Barbara Steffens, schloss daran an, indem sie in ihrer Rede die große Herausforderung des demographischen Wandels hervorhob. Die Kommunen hätten dies jedoch oft noch nicht begriffen. Selbst durch die Migration könnten die Folgen der Alterung und Schrumpfung unserer Gesellschaft nicht verhindert werden. Sie warb offensiv für ihre Quartierspolitik und erklärte, defizitäre Haushalte seien gerade ein Grund, Quartiersprojekte zu fördern, da diese auf lange Sicht präventiv die Haushalte entlasteten. Die Vielfalt der Quartiere in Größe, Struktur und Demographie sei der Schlüssel zur Bekämpfung struktureller Armut im Alter. Daher dürfe nicht nur die Pflegeversicherung entscheiden, wohin die Gelder gingen, sondern die Kommunen und Quartiersprojekte müssten konsultiert werden.
In der folgenden Diskussionsrunde hatten die VertreterInnen aus der Praxis Dr. Bodo de Vries, stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen Johanneswerks Bielefeld, Michael Färber, Fachbereichsleiter für Jugend, Gesundheit und Soziales des Kreises Olpe, Gaby Schnell, Vorsitzende der Landesseniorenvertretung NRW und Jörg Süshardt, Leiter des Sozialamtes der Stadt Dortmund, die Gelegenheit, in den Austausch mit Ministerin Steffens zu treten. Dabei wurde u.A. das Konzept der Modellkommunen kontrovers diskutiert, die unterschiedlichen Herausforderungen in einem Kreis und einer Kommune erläutert sowie Sorgen und Anliegen der sozialen Träger und InteressenvertreterInnen betont.
Im Abschlussvortrag führte Prof. Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und Vorsitzender der 7. Altenberichtskommission, zwei zentrale Aspekte aus:
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff sei auch im neuen Pflegestärkungsgesetz (PSG III) noch zu eng gedacht. Pflegebedürftigkeit sei ein Prozess zunehmender Vulnerabilität und abnehmender Selbstständigkeit. Doch im Gesetz und in der Praxis sei Pflegebedürftigkeit eingetreten, wenn eine äußerlich zu bestimmende Schwelle übertreten werde. Bis zum Überschreiten dieser Schwelle würden Rehabilitations-, hinterher Pflege- und zum Schluss Palliativmaßnahmen ergriffen. Orientiere man sich jedoch beim Pflegebedürftigkeitsbegriff an der Lebenswelt und nicht an Modellen, so könnten Rehabilitation, Pflege und Palliativmedizin nicht separat gedacht werden.
Ferner plädierte er bei der Daseinsvorsorge für einen Wohlfahrtsmix aus Verbänden, privaten Trägern, Kommunen, Familien, Nachbarn und Ehrenamtlichen. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips müsse jede/r Bürger/in sich fragen, was er oder sie für das Gelingen des Gemeinwohls tun könnten. Das könne auch bedeuten, auf gewisse Vergünstigungen und Leistungen zu verzichten – zugunsten schwächerer Menschen und zur Entlastung der Kommunen. Darin stecke eine große Chance für die Demokratie. Sein zusammenfassendes Schlussplädoyer lautete: „Wir müssen unsere Demokratie verteidigen – gegen rechts und gegen die vorherrschende Wohnzimmersesselmentalität.“
Mit dem abschließenden Ausblick von Prof. Dr. Christoph Strünck endete die sehr intensive und informative Fachtagung!